Dick und krank im Schlaraffenland? – Experten diskutierten im IFB Dialog

Über 150 Interessierte besuchten den diesjährigen IFB Dialog an der Universität Leipzig am 9.6.2015. Präsentiert und diskutiert wurden die evolutionären und soziokulturellen Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte, die die Neigung zu Übergewicht in der heutigen Überflussgesellschaft verstärken.

TV-Moderator Friedemann Schmidt leitete die Expertendiskussion mit Prof. Maren Möhring, Prof. Michael Stumvoll und Prof. Torsten Schöneberg. (von li. nach re.; Foto: D. Gabel)
Michael Stumvoll
Prof. Michael Stumvoll präsentierte eine Vielzahl von evolutionären, technischen und soziokulturellen Entwicklungen, die heute Übergewicht begünstigen. (Foto: D. Gabel)

Prof. Michael Stumvoll, wissenschaftlicher Leiter des IFB, präsentierte diese Entwicklungen in einem Eingangsvortrag und diskutierte diese im Anschluss mit Prof. Maren Möhring, Direktorin des Instituts für Kulturwissenschaften, und mit Prof. Torsten Schöneberg, Direktor des Instituts für Biochemie der Universität Leipzig. Friedemann Schmidt, TV-Moderator und Apotheker, führte durch die Abendveranstaltung. Die Experten gingen auch auf Fragen der Besucher ein.

Die Diskussion umfasste eine große Bandbreite von Einflüssen auf unser Körpergewicht – etwa die evolutionären Veränderungen der Gene, des Körpers und des Gehirns, der fundamentale Wandel in unserer Ernährung und Lebensweise bis hin zu der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bewertung von Übergewicht in unterschiedlichen Epochen. In diesem „Aktuellen Thema“ ist nachzulesen welche evolutionären Entwicklungen beim Menschen dazu führten, dass der Körper immer energieeffizienter wurde. Weniger Kalorien zu verbrauchen, führt dann in Zeiten von Nahrungsüberschuss schnell zu Übergewicht.

Besucher bei IFB Dialog 2015
Über 150 Besucher kamen zum IFB Dialog am 9.6.2015 an die Uni Leipzig. (Foto: D. Gabel)

Gene beeinflussen Gewicht

Gemäß der Hypothese der „Sparsamen Gene“ (thrifty genes) überlebten diejenigen Menschen besser, und damit deren Gene, die sparsamer mit Energie und Glukose (Traubenzucker) umgehen konnten, erläuterte Prof. Stumvoll. Hier werden traditionell die Nauru-Insulaner angeführt, die besonders lange Bootsfahrten überstehen, oder die Pima-Indianer in Arizona, die in einer extrem trockenen und kargen Umwelt überleben mussten. In beiden Gruppen, so die Hypothese, entstanden unter diesem Selektionsdruck Genvarianten, die sie sehr energieeffizient machten. Genau konnten die „Thrifty Genes“ noch nicht identifiziert werden. Am nächsten kommt ihnen eine jüngst in Inuit gefundene Genvariante, welche die Glukoseaufnahme in den Muskel hemmt. Das stellt bei der traditionellen fett- und eiweißreichen Ernährung dieser Völker eine ausreichende Glukoseverfügbarkeit für das Gehirn sicher. Heute führt diese Genausstattung dazu, dass diese Völker Adipositas- und Diabetes-Spitzenreiter sind.

Gene, die für die Anlage von Fettzellen zuständig sind, gab es schon vor 500 Millionen Jahren bei wirbellosen Tieren. Genau das wurde ein Überlebensvorteil bei unseren Vorfahren: die Möglichkeit, Energie in Fettzellen zu speichern. Bei andauerndem Nahrungsüberfluss wird dieser Vorteil zum Nachteil. Mittlerweile sind mindestens 30 Stellen im Genom bekannt, die mehr oder weniger stark die Energiespeicherung im Fettgewebe beeinflussen und deshalb mit Übergewicht assoziiert sind. Es gibt aber keine Gene oder körperliche Mechanismen, die eine Gewichtszunahme bremsen, weil sie als gesundheitsschädlich erkannt wird. Der Mensch kann zu viel aufgenommenes Vitamin C wieder ausscheiden, mit Kalorien funktioniert das nicht.

Friedemann Schmidt
Friedemann Schmidt nahm auch Fragen von interessierten Besuchern in die Diskussion auf. (Foto: D. Gabel)

Das Primatengehirn wuchs, der Energiebedarf des Körpers schrumpfte

Die Fortschritte in den Bereichen Werkzeuge, Landwirtschaft, Technologie und Zusammenleben sind den überlegenen kognitiven Fähigkeiten des Menschen zu verdanken. So verwundert es nicht, dass sich das Primatengehirn seit der Trennung vom Schimpansen vor ca. sechs bis acht Millionen Jahren beim heutigen Homo sapiens vervierfacht hat auf rund 1350 Gramm. Verbrauchten unsere Vorfahren im Tierreich bis hin zum modernen Menschen im 18. Jahrhundert immerhin 40 Prozent des Kaloriengrundumsatzes für den Nahrungserwerb, so sind es heute kaum mehr zehn Prozent.

Im Gegenzug verbraucht unser großes Gehirn nicht mehr nur acht Prozent wie beim Schimpansen oder noch beim Australopithecus afarensis (z. B. „Lucy“), sondern rund 25 Prozent unseres Grundumsatzes. Diese Energie muss ausschließlich als Glukose bereitgestellt werden. Es ist immer noch umstritten, auf Kosten welcher Organe sich diese Umverteilung vollzog. Lange galt die „expensive tissue hypothesis“, die besagt, dass der deutliche Rückgang der Darmgröße von 20 Meter beim Schimpansen auf sieben Meter beim modernen Menschen Energie für das Gehirn freisetzte.

Nach einer neueren Theorie, der „expensive framework hypothesis“, kann dem Gehirn aufgrund von mehreren Faktoren mehr Energie zukommen. So verbraucht z. B. der aufrechte Gang deutlich weniger Energie als jede andere Fortbewegungsmethode im Tierreich. Das Leben in Sozialverbänden (Großfamilien) ist energieeffizient, denn die Nahrungsbeschaffung für mehrere spart Kalorien. Dazu kommt die verfeinerte Vorratswirtschaft; die Nutzung von Werkzeugen und von Feuer zum Garen vermehrte die verfügbare Kalorienmenge.

Energiesparend wirkten sich außerdem die stark verlängerte Kindheit und die Abnahme der Kinderzahl durch weniger Schwangerschaften und weniger Säuglinge pro Geburt aus. All diese Energieeinsparungen bzw. Mehrgewinnung erlaubten das gewaltige Hirnwachstum der letzten zwei Millionen Jahre.
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Im nächsten „Aktuellen Thema“ erfahren Sie - in einem zweiten Bericht zum IFB Dialog - wie Neuentwicklungen in Landwirtschaft und Technik dem Menschen halfen seinen Energiebedarf immer besser zu decken. Thema wird auch sein, wie der Wandel in den modernen Gesellschaften seit den 1960-er Jahren zu Nahrungsüberschüssen und somit zum Übergewichtsproblem führte und wie dies gesellschaftlich bewertet wird.

Doris Gabel