Was beeinflusst unser Essverhalten? Beginnt Übergewicht im Kopf?
Diesen Fragen widmete sich der IFB Dialog am 14. Oktober 2014. „Kummerspeck“ und „Frustessen“ sind weithin bekannte Phänomene. Viele Menschen kennen die besonderen Stimmungslagen, in denen ein Schokoriegel unser Gemüt besänftigt oder Stress abbaut.


Wie wir wahrnehmen, fühlen und denken, beeinflusst also unser Essverhalten. In der Erforschung krankhaften Übergewichts (Adipositas) werden diese Zusammenhänge in den vergangenen Jahren verstärkt untersucht – vornehmlich in den Bereichen Psychologie, Psychosomatik und Neurobiologie. Im IFB Dialog diskutierten deshalb die Neurobiologin Dr. Annette Horstmann, die Psychologin und Psychosomatikerin Prof. Anette Kersting, der Ernährungspsychologe PD Dr. Thomas Ellrott (Universität Göttingen) und der Arzt und Adipositasforscher Prof. Matthias Blüher die Wechselwirkungen zwischen Psyche bzw. Gehirn und Essverhalten.*
Übergewichtsgefahr bei emotionalen Essern
Prof. Anette Kersting berichtete, dass viele Menschen Essen nutzen, um mit ihren Emotionen zu Recht zu kommen. Ärger, Enttäuschungen oder Stress scheinen ihnen dank Leckereien erträglicher. Psychologen und Ärzte sprechen auch von „emotionalen Essern“. Natürlich besteht dabei die Gefahr, dass das Futtern ohne echten Hunger die Kilos anwachsen lässt. Gefragt ist also Augenmaß, sodass aus dem Schokoriegel nicht regelmäßig zwei Tafeln werden. Es gibt allerdings auch manifeste Essstörungen, wenn z. B. junge Menschen Essanfälle haben, immer wieder große Nahrungsmengen vertilgen und dabei die Kontrolle über ihr Essverhalten verlieren. Dann sprechen Ärzte von der Binge-Eating-Störung, die eine spezielle psychotherapeutische Behandlung notwendig macht. Das IFB erforscht u. a. diese Essstörung und ihre Behandlungsmöglichkeiten. Bei einer kleinen Gruppe von Patienten hat die Erfahrung von starken Belastungen oder Missbrauch in der Kindheit das Risiko für Übergewicht erhöht. In einer psychosomatischen Therapie können die Betroffenen lernen mit diesen Zusammenhängen besser umzugehen.
Verführungen zum Essen
In der Ernährungspsychologie sehen Experten wie Privatdozent Dr. Thomas Ellrott besonders die für das Gewicht ungünstigen Umweltfaktoren kritisch: ständig verfügbare hochkalorische Essens- und Fast-Food-Angebote, die sinkende Zahl von selbst zubereiteten und in der Familie eingenommenen Mahlzeiten, stark kalorienhaltige Getränke bei gleichzeitig ständig abnehmendem Energieverbrauch z.B. durch Verkehrsmittel, die jede körperliche Aktivität abnehmen. All dies fördert eine Gewichtszunahme in der Bevölkerung. Lebensmittel selbst machen allerdings nicht süchtig, so Ellrott. Ähnlich wie bei Kauf- oder Spielsucht könne zwar Essen zu einem suchthaften Verhalten werden, es gibt aber keine Substanz im Essen, die etwa wie Kokain süchtig macht. Weder Glutamat, Salz, Zucker oder Fett hätten solchen Eigenschaften, so Ellrott. Entscheidend ob ein Mensch zunimmt, sei die Bilanz zwischen aufgenommenen und verbrauchten Kalorien – egal aus welchen Lebensmitteln diese Kalorien letztlich stammen. Das Ess- und Bewegungsverhalten bei Kindern sei weit stärker vom elterlichen Vorbild beeinflusst als von Werbung. Deshalb tragen Väter und Mütter eine besondere Verantwortung.
Essen als Belohnung
In IFB-Studien von Dr. Annette Horstmann im Bereich der Neurobiologie zeigte sich, dass das Gehirnareal, das für die Auswertung von Belohnungssignalen zuständig ist, v. a. bei adipösen Frauen vergrößert ist. Gehirnregionen, die für die zentrale Steuerung der Energiebalance und an der Verhaltenskontrolle beteiligt sind, zeigen auch Veränderungen. Dr. Horstmann sieht noch viel Forschungsbedarf bevor diese Erkenntnisse für eine verbesserte Therapie nutzbar gemacht werden können. Denn die Beeinflussung von Gehirnfunktionen, wie es z. B. Appetitzügler tun, sei schwierig und bisher immer mit vielen negativen Nebenwirkungen verbunden. Wichtig für das menschliche Glücks- und Zufriedenheitsempfinden sind auch hormonelle Botenstoffe im Gehirn, wie Serotonin und Dopamin. Deren Ausschüttung bei adipösen im Vergleich zu normalgewichtigen Patienten wird ebenso am IFB untersucht. Andere Hormone, die Hunger, Sättigung oder Stress signalisieren, stehen ebenso in Wechselwirkung mit der menschlichen Stimmung und dem Essverhalten.
Der adipöse Mensch als „Opfer der Evolution“
Die Entwicklung des Homo sapiens war Jahrtausende lang davon geprägt, die Kalorienverwertung zu optimieren und so Hungersnöte zu überstehen. Erst seit rund 50 Jahren leben die Menschen in einem Kalorienüberschuss – zu wenig Zeit für die Evolution, um Abwehrmechanismen gegen Übergewicht zu entwickeln. Noch immer ist der menschliche Körper so gepolt, möglichst viele Kalorien aufzunehmen, in Fettgewebe zu speichern und wenig zu verbrennen. Prof. Matthias Blüher, renommierter Adipositasforscher am IFB und im Sonderforschungsbereich „Adipositas-Mechanismen“ warnt davor, jeden Übergewichtigen als krank einzustufen. Es gibt viele Menschen, die trotz zu vieler Kilos einen gesunden Stoffwechsel und keine Beeinträchtigung der Lebensqualität haben. Wichtig sei eine Behandlung nur für die Patienten, bei denen Folgeerkrankungen drohen oder schon vorliegen. Da Adipositas bei wachsendem Body-Mass-Index vermehrt zu Folgeerkrankungen wie Diabetes, Fettleber, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt, wäre es angezeigt Adipositas als chronische Krankheit einzustufen und konsequent zu behandeln. Leider ist dies derzeit in Deutschland noch nicht der Fall, denn es mangelt an Behandlungs- und Finanzierungsmöglichkeiten.
Schlankheitszwang ist kontraproduktiv
Kaum ein äußerer Makel wird bei Menschen negativer bewertet als starkes Übergewicht. Die Schuld daran wird fälschlicherweise meist dem Betroffenen alleine zugeschrieben. Deshalb und da das Schönheitsideal Schlankheit postuliert, setzen sich viele Übergewichtige unter großen Druck abzunehmen. Dass gerade dieser Druck dann zu Frustrationen und sogar zu Essattacken führt, ist die besondere Ironie bei Abnehmversuchen. Liegen bereits im Kindes- und Jugendalter ein restriktives Essverhalten oder gar Diätversuche vor, begünstigt dies sogar die Entwicklung von Essstörungen und Übergewicht. Die Erwartungen an den Gewichtsverlust sollten realistisch sein und 10 Prozent des Körpergewichts oder rund 1 kg Abnahme im Monat nicht übersteigen. Essen muss auch nach der Veränderung der Ernährung zugunsten weniger Kalorien noch ein Genuss sein. Ein gelassenerer Umgang mit dem Thema Essen und Gewicht, aber auch ein konsequentes Therapieangebot bei krankhaftem Übergewicht würde uns allen gut tun.
* Teilnehmer in der Podiumsdiskussion waren:
- Prof. Dr. Matthias Blüher - Leiter der IFB-AdipositasAmbulanz, Endokrinologe. Er forscht am IFB AdipositasErkrankungen im Bereich Fettgewebe und Fettgewebshormone und ist Sprecher des Sonderforschungsbereichs "Mechanismen der Adipositas".
- Prof. Dr. Anette Kersting - Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Sie forscht u. a. am IFB AdipositasErkrankungen u. a. im Bereich Essstörungen. In der psychosomatischen Ambulanz der Klinik werden auch adipöse Patienten behandelt.
- Privatdozent Dr. Thomas Ellrott - Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie, einer Forschungs- und Lehreinrichtung an der Georg-August-Universität Göttingen.
- Dr. Annette Horstmann - Leiterin der Forschungsnachwuchsgruppe Neurobiologie der Entscheidungsfindung des IFB AdipositasErkrankungen am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig.
Moderiert wurde die Abendveranstaltung von Julia Kastein vom MDR Hörfunk.
Schlüsselworte: IFB-Forschung, Adipositasursachen, Ernährung & Diäten, Essstörungen
Doris Gabel